das Buch der Liebe

...nachdem sie Hakans Ungeschicklichkeit mit einem herablassenden Blick quittiert hatte, fuhr sie fort:
»Sie wissen vermutlich, dass die Zeit, in der mein geliebter Sohn geboren wurde, geprägt war vom Geist der Liebe und Toleranz wie in kaum einer Epoche davor oder danach. ›Love and Peace‹ waren das Motto und der Friede eine Folge der allumfassenden gegenseitigen Liebe, die wir einander entgegenbrachten und schuldig zu sein glaubten.«
Hakan nickte beflissen und hing an Mutters Lippen.
»Damals versuchten wir Grenzen zu überwinden. Grenzen, die zwischen uns standen und die wir mit Toleranz und Verständnis überwinden wollten. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen das damalige Gefühl vermitteln kann. Genau genommen kann ich heute selbst kaum glauben, wie sehr wir damals auf die Kraft der Liebe vertrauten. Das ging so weit, dass wir bedenkenlos unsere Körper in den Dienst der Sache stellten und glaubten, damit Gutes zu tun.«
Mutter unterbrach ihren Vortrag, als sie merkte, sich in Rage geredet zu haben und fürchtete, damit die einmal zugewiesenen Gesprächsrollen wieder durcheinanderzubringen. Nachdem sie Luft geholt hatte, fuhr sie fort: »Was ich sagen will, Hakan: Damals waren andere Zeiten. Zeiten, die ihr euch heute nicht mehr vorstellen könnt!«
»Niemand kann sich in die genauen Lebensumstände einer anderen Generation hineinfühlen, Frau Andreesen. Das Einzige, was wir tun können, ist, nicht vorschnell zu urteilen. Und genau das verspreche ich Ihnen. Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie sagen, dass Sie in der Flower-Power-Zeit ein rattenscharfes Luder waren, oder?« Hakan grinste Mutter mit einem Lächeln an, das einen Gutteil seines Charmes ausmachte.
Mutter entspannte sich und strahlte Hakan zum ersten Mal wirklich an.
»Ich sehe, Hakan, Sie haben zu Ihrer Offenheit zurückgefunden. Prima. Und ja, ich stimme Ihrem Urteil zu. Ich war damals jung, sah passabel aus, war neugierig und lebte in einer Zeit, die jungen Frauen meines Kalibers die Welt versprach. Und ja, ich nahm das Angebot an.«
»Wer einmal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment«, zitierte Hakan eine der damaligen Redewendungen, die ihm genauso in Erinnerung war, wie sie auch seine eigenen Lebensumstände beschrieb.
»Genau. Wir sagten allerdings: Schläfst du mal mit dem gleichen Mann, kannst du auch als Beamtin ran. Wir meinten damit natürlich dasselbe, fanden das aber frauengerechter.«
Hakan nickte wissend und ließ Mutter dann weiterreden, die jetzt den Mut gefasst hatte, auch den letzten Schritt zu gehen. »Auf jeden Fall war ich damals nicht nur mit einem Mann zusammen.«
»Sie meinen, in der Zeit, als Cord gezeugt wurde?«
»Volltreffer! Es gab damals nicht den EINEN Vater. Das wäre auch … wie soll ich sagen ... reaktionär gewesen. Ich hatte damals einige Freunde.«
»Und Sie wissen nicht, wer davon als Vater in Frage kommt?«
»Nicht genau, nein.«
»Was allerdings nicht erklärt, warum Sie nicht versucht haben, es herauszufinden, oder warum Sie nicht zumindest Cord diese Suche ermöglichen.«
Mutter seufzte tief, weil das Gespräch jetzt an eine unangenehme Stelle gekommen war. Wie konnte sie einem quasi Fremden ihre damaligen Überlegungen verständlich machen. So verständlich, dass der sie wiederum ihrem Sohn so weitergeben würde, dass es nicht zu einem Bruch zwi-schen ihnen käme.
»Es ist wahrscheinlich schwer für Sie zu verstehen, aber bei aller zur Schau gestellten Offenheit und Verbundenheit mit den Idealen meiner Zeit war ich doch immer auch die Tochter eines bürgerlichen Elternhauses. Mein Vater war Postbeamter, wie Sie vielleicht wissen. Und ich stand da und rebellierte gegen die Angepasstheit, für die meine Eltern und deren Generation standen. Nur, dass ich gar nicht so anders war und sie mir eigentlich auch keinen Grund gaben, gegen sie zu rebellieren. Mein Auflehnen war also mehr dem damaligen Empfinden geschuldet, wie junge Leute funktionieren sollten, als einer echten inneren Haltung.«
Hakan sah Mutter interessiert an. »Sie waren also tief im Herzen eine Bürgerliche, die sich nur der Coolness halber in ein Hippiegewand gepresst hatte?«
Sie nickte wohlgefällig. »So könnte man es sagen, ja. Ich denke übrigens, dass es den meisten Mädchen meiner Zeit ähnlich ging. Und als ich dann schwanger war, da kam die ganze bürgerliche Bedenkenträgerei in mir hoch. Wie würden meine Freunde und die möglichen Väter reagieren, wenn ich ihnen eröffnete, schwanger zu sein, ohne zu wissen, wer von ihnen der Vater sei?«
»Das wäre wahrscheinlich nicht so gut angekommen.«
»Eben. Selbst in den damaligen Zeiten nicht. Es ist eine Sache, Freizügigkeit zu predigen, aber eine vollkommen andere, diese auch als Lebenswahrheit zu akzeptieren, wenn es ernst wird. Ich hatte schnell Zweifel, wie die möglichen Väter reagieren würden, und mich dann – nennen Sie es Feigheit – einfach dagegen entschieden, ihnen etwas zu sagen.«
»Das finde ich sehr nachvollziehbar, Frau Andreesen. Nichtsdestotrotz ist es für Ihren Sohn ziemlich unfair, deshalb ohne Vater auskommen zu müssen.«
»Ich weiß, das klingt ein wenig egoistisch«, gab Mutter sich gerade so selbstkritisch, wie es ihr naturellbedingt möglich war.
Hakan sah ihr ruhig ins Gesicht und wartete. Nach einer Weile forderte er sie mit einer Handbewegung zum Weitersprechen auf, was aber an ihr abperlte.
»Normalerweise leitet man so Sätze ein, denen ein bedeutsames aber folgt. Ich darf davon ausgehen, dass Sie noch ergänzen wollen?«
»Eigentlich nicht, nein. ›Es klingt ein wenig egoistisch‹ ist genau das, was ich sagen wollte.«
»Okay, aber das hilft Cord nicht weiter, wie ich schon sagte. Jeder will wissen, wer seine Eltern sind, und niemand steckt es einfach weg, seinen Vater nicht zu kennen.«
Mutter runzelte die Stirn. »Aber Cord ist nicht ohne Vater aufgewachsen. Cords Vater ist letzte Woche gestorben. Ein Vater, der sich rührend um seinen Jungen kümmerte und der ihn liebte, als wäre es sein eigenes Kind gewesen. Nein, Cord hat nichts missen müssen und sollte sich nicht dauernd beklagen. Ich finde, sein Leben – soweit es die Umstände betrifft, die er nicht selbst versaut hat – hat ihm wirklich alle Möglichkeiten eingeräumt, die ein junger Mann sich nur wünschen kann.«
Hakan überdachte das Gesagte sorgfältig, bevor er darauf einging. »Ich nehme an, das heißt, dass Sie mir nicht die Namen der in Frage kommenden Männer nennen wollen?«
»Natürlich nicht! Ich dachte, soweit wären wir schon gewesen. Nein, nein, ich habe Sie herkommen lassen und Ihnen von meinen damaligen Befindlichkeiten erzählt, damit Sie Cord klarmachen, dass er uns beiden keinen Gefallen damit tut, weiter in dieser Sache herumzuwühlen«, erläuterte Mutter ihre Absichten.

Hakan legte die Stirn in Falten und dachte über eine Erwiderung nach.
»Sie sind eine schlaue Frau, Frau Andreesen. Und insofern kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen. Ihnen ist doch genauso klar wie mir, dass Cord es niemals dabei belassen wird, jetzt, wo der Zweifel gesät ist. Jeder Mensch will wissen, wo er herkommt und inwieweit sein Leben durch die Erbanlagen vorbestimmt ist. Und dazu gehört es, nicht nur seine Mutter zu kennen, sondern auch seinen Vater. Und am besten sogar noch deren jeweilige Eltern. Niemals, Frau Andreesen, wird Cord sich mit einer solchen Plattitüde zufrieden geben, wie Sie sie mir eben aufgetischt haben. Es geht hier – mit Verlaub – auch nicht mehr um Ihre eigenen Befindlichkeiten, nicht mehr darum, was Sie einmal gedacht haben oder warum Sie so handelten, sondern darum, inwiefern Sie jetzt bereit sind, Cord bei der Suche nach seinem Vater zu unterstützen. Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, lautete Ihre Antwort darauf: Gar nicht!«
Mutter räusperte sich erneut, schoss erst mit dem Oberkörper nach vorne, was normalerweise ihre nächste Attacke einleitete, und ließ sich dann wieder gegen ihre Stuhllehne sinken. Sie holte tief Luft, fasste sich dann an die Stirn und sprang von ihrem Stuhl auf.
»Was bin ich doch für eine schlechte Gastgeberin?«, strahlte sie Hakan endlich an. »Habe ich doch glatt vergessen, Ihnen nachzuschenken.« Ohne Rückfrage, ob Hakan das wünschte, entriss sie ihm seine Tasse aus der Hand und stürmte zur Tür. Im Türrahmen verharrte sie noch einmal und drehte sich zu ihm um.
»Ich fürchte, ich muss einen neuen Kaffe aufsetzen und brauche ein paar Minuten dazu. Fühlen Sie sich inzwischen bitte wie zu Hause!«