...Stanitzkis schwerster Fall...

Am gleichen, wirklich schlechten Donnerstag saß Kommissar Stanitzki in seinem Büro im Polizeikommissariat 35 und las die Zeitung zum zweiten Mal, auf der Suche nach Artikeln, die ihm vielleicht im ersten Anlauf durchgerutscht waren. Er empfand seine berufliche Beschäftigungslosigkeit nicht etwa langweilig, sondern freute sich über den ruhigen Ausklang seiner mehr als dreißigjährigen Polizistenkarriere. Man hatte ihn zur Belohnung für die tolle Verhandlungsführung, mit der er mich nach der Bordellsprengung im Krankenhaus um weitere fünfzigtausend Euro Entschädigungssumme gebracht hatte, in das Referat für Anerkennungen und Beschwerden versetzt, wobei er sich schwerpunktmäßig dem Teilbereich Anerkennungen widmen sollte. Seine Arbeitstage zogen seitdem entsprechend träge dahin und wurden nur selten durch Anrufe gestört. Umso erstaunter war er, als jetzt das Telefon klingelte. Er brauchte bis zum fünften Läuten, ehe er sich zum Abnehmen des Hörers durchrang.
»Referat für Anerkennungen und Beschwerden, Stanitzki, was kann ich für Sie tun?«
Am Telefon war die Vermittlungsstelle der Polizei, wie er mit einem Blick auf das Display des Telefons selbst hätte erkennen können. Der Mann am Telefon, den er sogar kannte, wie die meisten seiner Kollegen aber nicht mochte, erzählte ihm, dass ein Herr Andreesen in der Leitung sei, der unbedingt ihn, Stanitzki, sprechen wolle. Nach kurzer Bedenkzeit teilte Stanitzki dem Mann aus der Vermittlungsstelle mit, dass er eigentlich gar nicht da sei. Auf einer Fortbildung oder Bespre-chung oder so. Auf jeden Fall sei er für Andreesen nicht zu sprechen. Der Mann aus der Vermittlung kannte diese Reaktion bereits von der Mehrzahl seiner Kollegen und nahm den Auftrag teilnahmslos entgegen. Stanitzki atmete erleichtert auf und widmete sich wieder seiner Zeitung.
Es dauerte genau drei Minuten, bis das Telefon erneut klin-gelte und wieder versäumte es Stanitzki, sich mit einem Blick auf das Display vorab zu informieren. Erneut war der Mann aus der Vermittlung dran, den er nicht besonders mochte.
»Ich bin es noch mal.«
»Das höre ich! Was gibt es denn schon wieder?«, bellte der Kommissar in den Hörer.
»Ich habe hier einen Herrn Andreesen in der Leitung, der will …«
Stanitzki unterbrach den Mann aus der Vermittlungsstelle: »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich für den Kerl nicht zu sprechen bin!«
»Das will er ja auch gar nicht mehr – also zumindest nicht Sie persönlich.«
»Was soll das heißen?«
»Na ja, als dieser Andreesen vorhin anrief, da wollte er Sie sprechen. Aber als ich ihm sagte, Sie wären für ihn nicht zu sprechen, hat er von mir verlangt, mit der Beschwerdestelle verbunden zu werden. Und da Sie im Moment der einzig anwesende Kollege in der Beschwerdestelle sind …«
Stanitzki brauchte eine Weile, um das Gehörte zu verarbei-ten. »Ich bin in dem Referat für Anerkennungen und Beschwerden aber eigentlich mehr für die Anerkennungen zuständig«, jammerte er kläglich.
Der Mann aus der Vermittlung gab zu bedenken, dass man jemandem, der die Beschwerdestelle anrufen wolle, kaum sagen könne, dass das aufgrund mangelnder Besetzung nicht ginge. Da könne er dann eigentlich gleich weiter zum Polizeidirektor durchstellen, der seine Behörde erst im letzten Monat mit einem Rundbrief zum Thema ›Mehr Bürgernähe‹ amüsiert hatte.
Zähneknirschend fügte sich Stanitzki dieser Argumentation und ließ sich verbinden, einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die offene Zeitung werfend. Er würde das verdammte Gespräch so kurz wie möglich halten und sich dann wieder wichtigeren Themen zuwenden.
»Hallo, Herr Andreesen. Schön, mal wieder von Ihnen zu hören«, log er. »Ich hoffe es geht Ihnen gut?«
»Lassen wir das Geseier, Stanitzki. Ich habe nicht so viel Zeit und Sie sind mir noch einen Gefallen schuldig, den ich jetzt einfordern muss.«
»Was?«
»Sie wissen schon. Ich habe Ihnen damals, als Ihr Verein das Ambrosia gesprengt hatte, nur die Hälfte der Entschädigung aus dem Kreuz geleiert und Sie später auch nicht wegen des Verstoßes gegen den Datenschutz angezeigt, als Sie dem alten Rehberg alles über mich und die Ermittlungsergebnisse erzählt haben.«
Stanitzki wich alles Blut aus dem Gesicht und er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. So eine Aufregung war nicht geplant, nur wenige Jahre vor seiner Pensionierung. Mühsam presste er hervor:
»Was wollen Sie, Andreesen?«.
»Ich will, dass Sie sich so schnell wie möglich hierher be-wegen und nach dem Rechten sehen. Irgendetwas geht hier vor und ich weiß nicht was.«
»Wohin bewegen?«
»Mein Gott, Stanitzki, lesen Sie keine Zeitung? In das Camp natürlich. Das Camp der Liebe. Verdammt, machen Sie Ihren Computer an und gucken Sie unter meinem Namen, Sie weltfremder Bürokrat.«
Ausgerechnet ihm vorzuwerfen, er würde keine Zeitung lesen, schmerzte Stanitzki. Irgendetwas musste aber dran sein, wenn Andreesen so aufgebracht war. Schuldbewusst glitt sein Blick auf die Plastikhaube, die immer noch auf dem Bildschirm seines Computers ruhte. Von dort würde es keine Unterstützung geben. Als das Ding vor vier Monaten in sein Büro geschoben wurde und er nach halbstündiger Suche immer noch nicht in der Lage gewesen war, es auch nur einzuschalten, hatte er begriffen, dass diese Technik eher für nachfolgende Generationen bestimmt war. Resigniert hatte er das Thema nicht weiterverfolgt. Trotzdem blitzte eine vage Erinnerung an das Camp der Liebe in seinem Hinterkopf auf. Das war doch sogar im Fernsehen gewesen, erinnerte er sich. Und dass dieser Schwachkopf Andreesen darin verwickelt war, konnte ihn eigentlich auch nicht überraschen.
»Was genau wollen Sie von mir?«, fragte er mit wiedergewonnener Sicherheit.
»Ich will, dass Sie hierher kommen und mir helfen, die Sache diskret in den Griff zu kriegen …was immer diese Sache auch ist!«, forderte ich und trug damit wenig zu seiner Beruhigung bei.
»Welche Formulare muss ich mitbringen?«
»Vergessen Sie Ihre Formulare, Stanitzki. Kommen Sie einfach her und bringen Sie Ihre Dienstwaffe mit!«