bald vorbei...

Ich stand am Strand bei Antibes und hielt den Blick auf das große Frachtschiff gerichtet, das kurz zuvor noch selbstbewusst durch das Mittelmeer gepflügt war und seit ungefähr einer Stunde ohne Fahrt im Wasser lag. So, wie die Besatzung – ein in Frankreich sorgsam vermiedener Begriff – das Beiboot klarmachte, hätte es sich um eine vor Anker liegende Luxus-yacht handeln können, deren Eigner seine Crew zum Landgang vorausschickte, um mit dem Hubschrauber und aus-schweifenden Shoppingvorsätzen zu folgen. Luxusyachten haben aber normalerweise keine grüngrauen Rümpfe, keine grauen Ladekräne, keine plumpen Schiffskörper und, vor allem, keine riesigen zylinderförmigen Lasten an Bord.
Der Frachter hatte nicht freiwillig seine Fahrt gestoppt – so viel war klar – und mittlerweile hatte sich am Strand ein Men-schenauflauf gebildet. In mir setzte sich der Gedanke fest, dass ich als erste Person vor Ort Anspruch auf die Prise haben könnte, wenn das Schiff, begünstigt durch die derzeitigen Strömungsverhältnisse, an unserem Strandabschnitt aufträfe. Da »Anspruch« und »Prise« deutsche Wörter sind, deren nahe-liegende Übersetzung in »Ansprüüch« und »Priehsé« bei mei-nen Nebenleuten nur Schulterzucken auslöste, verwarf ich den Gedanken so schnell, wie er gekommen war und versank in nachdenkliche Trübsal, die auch dadurch nicht gemildert wur-de, dass draußen auf See Leute waren, denen es viel schlechter ging als mir. Ich war in Südfrankreich, die Sonne schien hell und warm auf das azurblaue Meer und die heutige Fügung bot ein unterhaltsames Stück Abwechslung mit denkbar geringer Gefährdung von Menschenleben, da bei so kurzer Distanz zur Küste keine ernsthaften Probleme zu erwarten waren. Am Strand kreisten jetzt mehrere Flaschen Wein und französisch formulierte Theorien über die Ladung des Frachters. »Partie d’une centrale atomique« bildete sich als Mehrheitsmeinung heraus und half mir nicht weiter.
»Sie meinen, es handele sich um Teile eines Atomkraftwer-kes«, übersetzte ein älterer Herr neben mir, der meine Ratlo-sigkeit bemerkt hatte. Seine Kleidung wirkte gepflegt und kostspielig und unterstrich damit die Details einer ansonsten kaum auffälligen Ungepflegtheit von Fingernägeln und Schuhwerk.
»Zu naheliegend«, antwortete ich.
»Warum meinen Sie?«
»Weil das Schiff unter libyscher Flagge fährt.«
»Da gebe ich Ihnen recht.« Er legte die Art Pause ein, die dem Nachfolgenden Gewicht geben sollte. »Tatsächlich ist das eher das Gerüstbein eines Jack-Up Rigs«, ließ er mich wissen und erläuterte umgehend, dass Jack-Ups die spezielle Bauform von Hubbohrinseln seien.
»Was wissen Sie denn über Bohrinseln?«, fragte ich schärfer als beabsichtigt, weil mir der oberlehrerhafte Ton seines Vor-trages missfiel.
»Eigentlich weiß ich so gut wie nichts über Jack-Ups oder Tension-Legs. Meine ist schließlich eine ganz normale Plattform. Fest verankert, Sockel auf Meeresgrund, fertig.«
»Was meinen Sie mit ›Ihre‹?«, wurde ich neugierig. »Ich meine, meine Plattform vor Suffolk, England. Meinen Geschütz-turm, der auch gleichzeitig mein Staat Sealand ist.«
»Ich habe davon gelesen, glaube ich«, entgegnete ich schwach. »Und Sie sind dann Herr …?«
»Yates, Roy Yates«, antwortete er und deutete eine Verbeu-gung an.
»Roy? So, wie Siegfried und Roy?«
»Nein, Roy, wie das französische ›Roi‹, was König oder Herrscher bedeutet«, antwortete er lächelnd und ein wenig zu selbstgefällig.

Unser Blick richtete sich wieder auf den Frachter, dem nun mehrere Rettungsboote und Schlepper aus dem nahen Port Vauban zu Hilfe gekommen waren und ihn ratlos umkreisten.
»Franzosen können nicht retten«, kommentierte der ältere Herr, »ich würde mir jetzt ernsthaft Sorgen machen, wenn ich auf dem Frachter wäre.«
»Ich würde mir jetzt eher Sorgen machen, wenn ich der Reeder des Schiffes wäre. Zum Beispiel darüber, wie ich die Angelegenheit den Libyern beibrächte. ›Entschuldigung, Herr Gaddafi, aber ich fürchte, diese Weltauslöschsache muss noch ein wenig verschoben werden. Wir haben leider Ihren Reaktor wegen eines Motorproblems verloren.‹ ist nichts, was man sich im Leben sagen hören möchte.«
Der ältere Herr nickte leicht mit dem Kopf und sah mir dann direkt in die Augen. »Noch schwieriger wäre es aber, Herrn Gaddafi zu erklären, dass man seinen Atomreaktor bei der Verladung mit dem Gerüstbein einer Bohrplattform verwechselt hat. Denn genau das ist es, was der Frachter geladen hat«, wiederholte er seine Erklärung von vorhin.

Es verging eine weitere Stunde, ehe die Rettungskräfte die Lage soweit im Griff hatten, dass keine gegenseitigen Havarien mehr drohten und sie den Frachter in das tiefere Fahrwasser zurückgeschleppt hatten. Die Menschenmenge am Strand löste sich schnell gruppenweise auf, als die Gefahr gebannt schien. Den Rest der ausstehenden Informationen würde man morgen im Café aus der Zeitung erfahren. Übrig blieben Herr Yates und ich, die noch immer das Geschehen um den kleiner werdenden Frachter und seine Entourage aus hektisch die Positionen wechselnden Hilfsbooten beobachteten.
»Ihre Ölbohrinsel …«, hob ich an, ohne ihn anzusehen.
»… Sie meinen, meine Seefestung«, unterbrach er mich, »denn genau das war sie früher. Betonsäulen mit innen liegen-den Räumen und einer Stahlplattform darüber, für die Geschütze. Installiert 1942 außerhalb der Dreimeilenzone für den Einsatz im zweiten Weltkrieg, aufgegeben im Jahre 1956 und von mir und meinen Männern 1967 erobert und besetzt.«
»Also keine Ölbohrinsel«, sagte ich, um das Gespräch am Laufen zu halten.
»Genau. Keine Ölbohrinsel. Ein Staat, seit ich ihn prokla-miert habe. Mit eigenen Gesetzen, eigener Armee, eigenen Pässen, eigenen Briefmarken und einem Fürsten, der die Re-gierungsgeschäfte leitet.«
»Und dieser Fürst sind Sie?«
»Ganz genau. Der Fürst bin ich!«
»Müssten Sie dann nicht ein bisschen …«, mir fehlten die Worte für eine höflichere Umschreibung, »… beschäftigter sein? Ich meine, sollte es dann nicht ein wenig hektischer zugehen bei Ihnen? Also, hektischer, als es ein zweieinhalbstündiges Schiffebeobachten vermuten lässt?«
»Ich kann meine Regierungsgeschäfte zurzeit nicht ausfüh-ren«, antwortete er, plötzlich kurz angebunden.
»Wieso nicht?«
»Putsch«, flüsterte er jetzt beinahe. Er erklärte mir, dass eine Handvoll Aufständischer die Kontrolle über sein Reich über-nommen hätte, während er, dem Wunsch seiner Ehefrau folgend, auf Einkaufstour in Frankreich weile. Neben dem nach-vollziehbaren Anliegen der Briten, die Plattform wieder unter Kontrolle zu bekommen, hatten sich mit den Jahren auch andere Gruppierungen mit vordergründig wirtschaftlichen Interessen für seinen Staat im ansonsten rechtsfreien Raum interessiert. Glücksspielbetreiber, Steuerflüchtlinge und andere halbseidene Geschäftemacher hatten ihr Auge auf den kleinen Staat im Meer geworfen. Aber auch mehrere Rückeroberungsversuche durch Kräfte der Royal Navy waren jeweils am hartnäckigen Widerstand der Besetzer um den Ex-Major Yates gescheitert. Ebenso erfolglos verlief der Versuch der britischen Regierung, das Ärgernis auf juristischem Wege vor dem örtlichen Gericht in Essex zu beseitigen. Das Gericht erklärte sich nicht zuständig für Vorgänge außerhalb der britischen Hoheitsgewässer. So blieb es über Jahrzehnte dabei, dass viele das haben wollten, was Herr Yates geschaffen hatte, und auf die kleinste Chance lauerten, es auch tatsächlich zu bekommen. Nie hätte er damit gerechnet, dass ausgerechnet sein Anwalt und Geschäftspartner, dem er sogar eine eigene Unterkunft auf Sealand hatte einrichten lassen, der Verräter werden würde, der seinen Traum und seine Arbeit mit einem Handstreich an sich riss. Er, der Fürst, wurde von ihm in seiner Abwesenheit per Deklaration abgesetzt und zur unerwünschten Person erklärt. Sein Land war verloren.
Nachdem mir Herr Yates seine Geschichte erzählt hatte, verlangte er – wohl um der fürstlichen Verpflichtung zur Höf-lichkeit zu genügen – nach der meinen. Ich zierte mich und so verlangte er, zumindest meinen Namen zu erfahren, was nach einer so netten Unterhaltung wohl mehr als angemessen sei, wie er sagte.
»Mein Name ist Cord Andreesen. Und es ist nicht auszu-schließen, dass auch Sie meine Geschichte bereits aus der einen oder anderen Veröffentlichung kennen«, formulierte ich deutlich zu geschwollen.
Nach einem kurzen Moment nachdenklichen Schweigens begann er, über das ganze Gesicht zu strahlen.
»Mein lieber Junge, ja! Cord Andreesen! Natürlich kenne ich Sie und Ihr Camp der Liebe, mit dem Sie europaweit das diesjährige Sommerloch gefüllt haben!«
Er dachte erneut einen Moment daran herum, ehe er fortfuhr: »Und wenn ich es richtig sehe, haben Sie Ihren Traum gelebt und am Ende verloren, genauso wie ich!«
»Nur, dass ich das Ganze noch nicht als beendet ansehe«, warf ich ein, »noch lange nicht beendet. Streng genommen, fange ich gerade erst an!«

Natürlich habe ich Herrn Yates nicht mit allen Details zum Camp der Liebe belästigt. Auch später nicht, als wir uns schon besser kannten und die Rückeroberung von Sealand planten. Obwohl ihn das Leben auf einer Miniatur-Plattform mitten im Meer in Langeweile geübt haben sollte, glaube ich nicht, dass er mit ausreichender Geduld der Geschichte meines Werdegangs, meiner Liebschaften, Freunde und Gegner gelauscht hätte, um die Dinge so zu würdigen, wie sie es verdienten. Ich will damit nicht sagen, dass diese Details zwanghaft langweilig sind. Für diejenigen, die Interesse an Sex, gesprengten Bordelltüren, gescheiterten Paartherapien, eifersuchtsbedingten Todesfällen und inkontinenten Iberern haben und genügend Zeit mitbringen, könnte es sogar recht interessant werden. Herr Yates war aber seit der Nennung meines Namens von einer derart nervösen Aufgeregtheit erfüllt, dass es mir schwerfiel, ihn für etwas anderes als die Planung der militärischen Operation, wie er es nannte, zu interessieren.
Nun geht es aber nicht ausschließlich um Herrn Yates, auch wenn er das gerne so hätte, sondern um das Camp der Liebe. Und um das zu verste-hen, müssen wir zuerst ein ganzes Stück zurückgehen. Sehr weit zurück …