wenn dies ist, dann ist jenes

Zehn Minuten später saßen wir in einem heruntergekommenen Außenseitercafé im nahegelegenen Ort, das Papa sein zweites Wohnzimmer nannte. Grundsätzlich stellt so etwas keine Hürde dar, wenn das erste Wohnzimmer eine vollgekotzte Muffbude ist. Trotzdem finde ich, dass man sich ein bisschen mehr Mühe geben kann, als gerade so die Mindesthürde zu nehmen. Das fand der Betreiber des Cafés aber nicht, und so saß ich unbehaglich auf dem fleckig gepolsterten Stuhl und versuchte, so wenig Sitzfläche wie möglich an meine Hose kommen zu lassen.
Eigentlich wollte ich behutsam vorgehen und nicht mit den drängendsten und am schwersten zu b eantwortenden Fragen beginnen. Aber, wie so oft, gingen mir die Pferde durch.
»Warum hast du nie versucht mich zu sehen?«
Papa Siddharta legte den Kopf schief. »Bedenke, Junge, ich wusste doch gar nichts von dir.«
»Na ja, du hattest Sex mit meiner Mutter und danach hat sie sich komisch benommen und den Kontakt abgebrochen. Hättest du da nicht misstrauisch werden müssen?«
Kolodzyk schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Erinnerung. »Weißt du eigentlich, wie oft mir das damals passiert ist? Das waren wirklich andere Zeiten. Rätselhafte, mitreißende, inspirierende Zeiten, in denen wir mehr über uns selbst und den kosmischen Zusammenhalt lernten als jemals danach.«
»Und das heißt?«, bohrte ich nach.
»Das heißt, dass ich damals gar nichts wusste, jung und dumm durch die Gegend vögelte und die Dinge so nahm, wie sie kamen. Und wenn deine Mutter damals sagte, ich solle meine Sachen packen und verschwinden, dann habe ich nicht nach versteckten Botschaften in ihren Worten gesucht, sondern habe meine Sachen gepackt und bin verschwunden!«
Das reichte mir nicht. »Aber wenn du es gewusst hättest, hättest du dann versucht, mir ein Vater zu sein?«
Kolodzyk dachte erneut mit geschlossenen Augen über die Frage nach. »Wusstest du, dass der verehrte Buddha Siddhartha Shakyamuni seinen einzigen Sohn Rahula genannt hat?«
»Aha«, antwortete ich müde und bat mit schlapper Geste um Erläuterung.
»Rahula bedeutet übersetzt Fessel und das sagt ja wohl alles. Kinder sind Fesseln auf dem Weg des Erwachens!«
Nun war es an mir, nachzugrübeln. »Du meinst, selbst wenn du von mir gewusst hättest, wäre ich für dich nur eine Belastung gewesen und du hättest dich nicht um mich gekümmert?«
»Ich glaube nicht, dass ich dir die Frage heute ehrlich beantworten kann. Ich habe mittlerweile zu viele Transformationen meiner Persönlichkeit durchgemacht, um mich heute noch in den frühen Jens hineinzufühlen, denke ich.«
»Hast du meine Mutter geliebt?«, wollte ich auf einmal seltsam dringend wissen und musste doch fürchten, die gleiche Antwort wie soeben zu erhalten.
»Oh, ja, das habe ich! Allerdings glaube ich nicht, dass wir das Gleiche meinen, wenn wir von Liebe sprechen.«
»Wie bitte?« »Im Buddhismus unterscheiden wir zwischen den Begriffen Liebe und Anhaften, die im Christentum untrennbar sind. In Liebe sein bedeutet für uns, keinen Mangel zu leiden und von Glück erfüllt zu sein, wohingegen Anhaften ein Zustand ist, bei dem der Mensch einen Mangel spürt und daran leidet und deshalb einen anderen Menschen zu brauchen glaubt, der diesen Mangel ausfüllt. Nur dass das nicht geht, solange die Ursache des Mangelempfindens im eigenen Ich liegt und nicht ausgeräumt wird.«
»Ich verstehe dich richtig, dass Liebe nicht dauerhaft sein kann und es deswegen in Ordnung geht, dass du Mutter schwanger sitzen gelassen hast?«
Kolodzyk wies das entschieden zurück. »Unfug! Erstens wusste ich nichts von ihrer Schwangerschaft, zweitens wissen wir beide nicht, ob diese überhaupt auf mich zurückgeht, und drittens bedeutet das nicht, dass der Zustand der Liebe im Buddhismus nicht längerfristig sein kann. Nicht endlos, sicher, aber durchaus von einiger Dauer. Bei den Wettbewerbern unserer Religion ist Liebe zwanghaft unbegrenzt. Bis in den Tod und darüber hinaus. Ansonsten handelt es sich um einen Irrtum und nicht um Liebe. Als Buddhist sage ich dir leichten Herzens, ja, ich war in deine Mutter verliebt!«
Ich dachte darüber nach und bemühte mich, Vaters Ansichten nicht zu missbilligen. Abgesehen davon gab es ja auch noch einen Restzweifel, ob Kolodzyk überhaupt mein Vater war. Schließlich hatte ich noch Haare, war um einiges größer als er und hatte auch sonst nicht viel Ähnlichkeit mit ihm.
»Den Punkt mit der Vaterschaft können wir schnell klären. Dazu braucht es nur etwas Blut und dein Einverständnis.«
Kolodzyk schüttelte den Kopf. »Und genau das werde ich dir nicht geben!«
»Warum nicht?«
»Überleg doch einmal: Ich lehre das Leben im Jetzt! Wie soll ich da deinen Wunsch unterstützen, die Vergangenheit zu analysieren? Genieße, was du bist, und vergiss, was du warst!«
»Du willst nicht wissen, ob ich dein Sohn bin?«
Kolodzyk sah mich mitleidig an. »Nein, denn ich weiß es bereits. Du bist mein Sohn, so wie auch Hakan mein Sohn ist und meine Tochter und …« »… und mein Feld, ja, ja, das kenne ich bereits!«
Kolodzyk schmunzelte. »Nun, dann weißt du doch alles, was nötig ist!«

Er erhob sich und zeigte damit das Ende der Audienz an. Müde und enttäuscht stand ich auf und verabschiedete mich von meinem Papa Siddharta, der seine rechte Hand auf meine Schulter legte und mich sanft, aber bestimmt zur Wohnungstür schob. Ich hätte noch etwas sagen sollen, noch ein paar Argumente zu meinen Gunsten auffahren und ihn überzeugen müssen, aber ich hatte weder die Kraft dazu noch die nötigen Sätze auf der Zunge, und so zog ich mit hängenden Schultern davon.